Das Leid von Menschen, die ungewollt operiert wurden, ist

auch Thema dieser Sendung von Quarks und Co. (gesehen am 4.7.2022):

Intersexualität: Warum es mehr als zwei Geschlechter gibt (Ganze Folge) | Quarks

Man bekommt mit, wie hier Eltern von Experten unter Druck gesetzt werden mit einseitigen Studien.

Sehr hilfreich finde ich direkte Statements wie „Meine Wahrnehmung ist einfach zwittrig“ – und viele andere wichtige Aussagen von Lisa und Lynn, die direkt selbst mit dem Thema betroffen sind (mehrmals im Video zu Fragen von anderen Menschen). Danke!

Hilfreich ist auch eine Übersicht über die Entwicklung der Geschlechtlichkeit im Mutterleib,  sowie ein Experiment mit der Sozialisation inkl. Einteilung von Menschen in ein binäres System.

Dutee Chand erfährt erst aus der Presse, warum sie als Sportlerin disqualifiziert wird. Sie war als Mädchen sozialisiert worden, aber ihr Testosteronspiegel ist sehr erhöht (ähnlich wie bei Caster Semenya). Das bedeutet seit 2011 dass erst eine künstliche Senkung des Hormonspiegels erfolgen muss (so die Regel im Leichtathletikverband), bevor jemand in der Frauenliga starten kann. Ethisch gesehen ist das allerdings hoch problematisch, da sie ja gesund ist und es keine medizinische Notwendigkeit für eine künstliche Testosteronsenkung. „Man würde ja auch nicht einen Läufer mit extrem langen Beinen von Wettbewerben disqualifizieren, weil das ein unfairer Wettbewerbsvorteil sei“ beobachtet die Moderatorin zu Recht.

Ab Minute 35 wird dann auch auf neuronale Varianten und Übergänge eingegangen und dabei kommen Forscher wie Prof. Cordian Beyer (Neuroanatom, Aachen) und Prof. Ute Habel (Neuropsychologin, Aachen) zu Wort. Beyer: Es gibt „fließende Übergänge“ zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen auf anatomischer Ebene. Sehr spannend sind auch Einflüsse des weiblichen Zyklus und der damit verbundenen Schwankungen auf das Gehirn. In einer Kernspin-Untersuchung zeigte Ute Habel, wie eine Trans* Frau in ihrer auditorischen Wahrnehmung ebenfalls zwischen Männern und Frauen liegt.

Ein sehr sehenswerter und informativer Beitrag von Quarks&Co, der zu anderen Forschungsergebnissen passt, über die in diesem Blog an anderen Stellen (z.B. hier und hier) berichtet wurde.

Auch der Biologe und Genderforscher Prof. Dr. H.J. Voß zeigte in einer Präsentation (leider nicht mehr online einsehbar) der  Frankfurt University of Applied Sciences (Stand 2020) und unter Verweis auf Quarks&Co. (die ältere Version dieser Sendung, in der Ranga Yogeshwar moderierte), wie vielfältig das biologische Geschlecht ist. So spielen z.B. Wt1, Dmrt8 and Sox9 eine wichtige Rolle bei der Geschlechtsentwicklung (s. Grafik 9 in der Präsentation). In seinem Buch „Making Sex Revisited“ geht er ausführlicher auf die Geschichte und antike Vorstellungen von Geschlecht ein, die bis in die Gegenwart prägend waren. Er schreibt: „. Ersichtlich wird hier, wie die schon in den konstituierenden biologisch-medizinischen Wissenschaften des 19. Jh. zu findende Annahme, ‚männliche‘ Entwicklung stelle eine superiore Fortentwicklung aus einer basalen ‚weiblichen‘ Entwicklung dar, Forschung in der Weise behindert hat, dass es lange Zeit als undenkbar oder unwahrscheinlich erschien, auch zu ‚weiblicher‘ Geschlechtsentwicklung aktive Entwicklungsschritte als notwendig anzunehmen.“ (ebd. S. 308) und etwas weiter: „Es bildete sich die Vorstellung von in einem Netzwerk wirkenden Faktoren heraus. Erst durch die Vielzahl wirkender Faktoren werde eine typisch ‚weibliche‘ oder typisch ‚männliche‘ Geschlechtsentwicklung erreicht. Mittlerweile werden Betrachtungen dominant, die nicht
mehr nur von interagierenden Genen und Genprodukten in solchen Netzwerken
ausgehen, sondern weitere molekulare Komponenten in den Blick nehmen, die
sich insbesondere in den DNA- und Histon-Modifikationen, aber auch auf
posttranskriptionaler und posttranslationaler Ebene darstellen. Damit wird es möglich, an der Geschlechtsentwicklung mitwirkende molekulare Komponenten als Resultat komplexer Prozesse und als eingebunden in komplexe Prozesse wahrzunehmen. Prozesse, Wechselwirkungen, Kommunikationen verschiedener molekularer Komponenten in der Zelle, im Organismus und mit der ‚Umwelt‘ werden so in Forschungen nachvollziehbar; daraus können sich neue Impulse für Inhalte und Methoden von Forschungen zur Geschlechtsentwicklung ergeben.“ (ebd. 308f.). „. Als hinderlich erweist sich hierbei auch, dass Intersexualität (oder neu: ‚Disorders of Sex Development‘, Abkürzung: DSD,
engl., ‚Störungen der Geschlechtsentwicklung‘) noch immer als pathologische
Fehlentwicklung wahrgenommen wird. Warum sollte das Resultat vielfältiger
komplexer Mechanismen, mit Interaktionen, Kommunikationen, mit Reaktionen
auf umgebende Einflüsse etc. ausschließlich die Ausformung zweier Möglichkeiten sein? Eine unverstellte Sicht, die nicht die gesellschaftliche Voraussetzung
zweier dichotom zu unterscheidender Geschlechter unhinterfragt in ihre Forschungen übernimmt und die so Offenheit auch für nicht-dichotome geschlechtliche Erklärungen lässt, ist in jedem Fall besser geeignet, vorübergehend überzeugende Darstellungen der Geschlechtsentwicklung zu geben.“
Update 14.3.2024 Prof. Heinz-Jürgen Voß sagte in einem Artikel der Berliner Zeitung vom 5.7.2022:

„Wissenschaftlich wird von Variabilität und individueller Vielfalt ausgegangen. Bei der Entwicklung des Genitaltraktes, bei der Ausprägung von Geschlechtsmerkmalen sehen wir vielfältige Ausprägungsformen, die die Genitalien annehmen können. So einfach, wie man populär denkt, ist es nicht. Auf chromosomaler und genetischer Ebene werden vielfältige Faktoren diskutiert. Dasselbe gilt für Hormonwirkungen und innere und äußere Bestandteile des Genitaltrakts. Deswegen gilt es, die Individualität von Merkmalen wahrzunehmen. […] Nur weil für die Gattung Mensch, für den Erhalt der menschlichen Art, in der Fortpflanzung zwei Geschlechter erforderlich sind, heißt das nicht, dass sich alle Menschen fortpflanzen müssten oder dazu in der Lage sein müssten. […] Wenn wir nur auf Individualität gucken, müsste man sagen, dass es so viele Geschlechter gibt, wie es Menschen gibt. Lange Zeit – seit der Gründung der modernen Biologie um 1800 – wurden die gesellschaftlichen Geschlechterstereotype einfach auf die biologische Wissenschaft übertragen. Man ging gesellschaftlich von einer klaren Ordnung der Geschlechter und der Zurücksetzung der Frauen aus – und versuchte das als biologisch nachzuweisen. Erst seit etwa 30 bis 40 Jahren sind wir in der Biologie dabei, diese stereotype Zuschreibung zurückzunehmen. Es wird zunehmend kritisiert, wenn bereits im Forschungsdesign – also noch bevor die Studie beginnt – in Frauen und Männer unterteilt wird. Unterteilt man so zu Beginn der Forschung, gibt es gar keine andere Möglichkeit, als entweder Gleichheit oder Differenz zwischen diesen zwei festgelegten Gruppen festzustellen. […] Jetzt beginnt man, unvoreingenommener auf die Geschlechtsentwicklung zu gucken. […] Vielfältigkeit wird ja auch real wahrgenommen, und die Biologie trägt dem Rechnung. Gleichzeitig ändert sich die Methodik der Forschung. Man untersucht jetzt nicht mehr nur ein Gen und folgert dann weitreichend, dass die Untersuchung „echte Weiblichkeit“ oder „echte Männlichkeit“ belegt habe. Heute ist man zurückhaltender und beschreibt schlicht die Wirkung, die etwa ein Ausfall eines Gens hat. Weitreichende Ableitungen sind bei der geringen Stichprobengröße, wie sie in der Biologie üblich sind, ohnehin schwierig. […] Grundsätzlich ist vieles in der biologischen Forschung eigentlich nur Theorie. Das Verständnis, dass die Biologie sicher wissen würde, wie Geschlechter rein genetisch entstehen, ist falsch. Es gibt etwa 1000 Gene, die bedeutsam für die Geschlechtsentwicklung sind. Davon sind 80 untersucht, und auch bei diesen 80 untersuchten Genen gibt es widersprüchliche Ergebnisse von verschiedenen Forschungsgruppen. Der von einer Forschungsgruppe festgestellte Zusammenhang konnte von einer anderen nicht belegt werden. Das ist normales Tun in der Forschung. Vieles ist einfach unbekannt. Es gibt also zum Beispiel Männer mit einem als typisch weiblich betrachteten Chromosomenbestand XX. […] Man suchte also ganz konkret auf dem Y-Chromosom nach Unterschiedlichkeit, vernachlässigte aber andere Chromosomen. Auch hier spielte also Parteilichkeit der Wissenschaft eine Rolle. Man suchte eben nur auf dem Y-Chromosom nach dem Hoden determinierenden Faktor. 1993 meinte man, ihn mit dem SRY-Gen gefunden zu haben. Aber zeitgleich zeigten sich Widersprüche: Das SRY-Gen war vorhanden und es hatten sich dennoch keine Hoden ausgebildet. In anderen Fällen war SRY nicht vorhanden und es hatten sich dennoch Hoden ausgebildet. Das gibt eine erste Idee davon, was ich – und wir in der Biologie – mit Komplexität meine. […] WNT4 ist ein Signalmolekül. Ihm wird Bedeutung bei der als weiblich betrachteten Entwicklung zugeschrieben. RSPO1 ist ein Transkriptionsfaktor. Es unterdrückt möglicherweise die als männlich betrachtete Entwicklung. Deutlich wird, dass „weiblich“ und „männlich“ eben nicht getrennt voneinander liegen, sondern dass jeder Embryo erst mal das Potenzial hat, sich in jegliche geschlechtliche Richtung zu entwickeln. Die Geschlechtsentwicklung ist so eng miteinander verdrahtet, da kann man männlich und weiblich nicht mehr trennen. Stattdessen muss man gucken, wie wirken die einzelnen Faktoren miteinander. […]“ Quelle (eingesehen am 14.3.2024): https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/sexualwissenschaftler-li.243483?fbclid=IwAR1RVm0nTVLjVDtqSCY1iWmVnFTZwEQIs31ij0dXskjSQ8pXhb4N4aqzz2c 


Update:
Im Scientific-American Artikel „Beyond XX and XY – The Extraordinary Complexity of Sex Determination
A host of factors figure into whether someone is female, male or somewhere in between“ von Amanda Montañez (Scientific American 317, 3, 50-51 September 2017) findet man eine ausführliche grafische Übersicht, wie Biologen, Mediziner / Genetiker die Bandbreite zwischen den Polen „Mann“ und „Frau“ erklären.

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