ein verständlicher Artikel zur Frage des biologischen Geschlechts

„Das“ biologische Geschlecht – was ist das eigentlich?

Dazu gibt es viele hilfreiche Gedanken und Anmerkungen in einem Beitrag von Jeff Mannes. Er schreibt unter anderem:

„Wissenschaft ist ein breites Feld. Je nachdem, welche wissenschaftliche Disziplin man betrachtet – z. B. Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften, Psychologie – erhält man eine ganz andere Definition dessen, was Geschlecht ist. Das bedeutet nicht, dass eine richtig und alle anderen Definitionen falsch sind. Es zeigt jedoch, dass man je nach Blickwinkel und den zugrunde liegenden Annahmen zu Geschlecht zu unterschiedlichen Erkenntnissen gelangt. Ein Psychologe, der Geschlecht im Rahmen seiner Forschung betrachtet, kommt zu einer völlig anderen Antwort auf die Frage, was Geschlecht ist, als eine Biologin, die Geschlecht abhängig von Chromosomen betrachtet. Keine Antwort ist per se falsch, sondern möglicherweise nur ein Teil der Wahrheit. Auch sind die englischen Begriffe «sex» (biologisches Geschlecht) und «gender» (soziales Geschlecht) nicht so leicht voneinander zu trennen, weil das Biologische mit dem Sozialen verwoben ist. […] selbst innerhalb der Naturwissenschaften gibt es eine grosse Bandbreite von verschiedenen Disziplinen mit unterschiedlichen Theorien und Definitionen zum Thema Geschlecht. Ein*e Genetiker*in hat eine andere Definition als ein Hormonbiologe oder eine Entwicklungsbiologin. Und in vielen Fällen sind diese Definitionen nicht oder nicht streng binär. Bei den Chromosomen haben die meisten Menschen entweder XX- oder XY-Chromosomen. Aber es gibt auch viele Menschen mit anderen Karyotypen – wie zum Beispiel Seamus. Ja, das wird oft als «seltene Abweichung von der Norm», oder «Krankheit» oder «Syndrom» beschrieben, als etwas, das also «nicht normal» und daher «falsch» sei. Obwohl bei vielen dieser Menschen keine gesundheitlichen Probleme auftreten (ja, viele wissen nicht einmal über ihre chromosomale Intergeschlechtlichkeit Bescheid) oder noch nicht abschliessend geklärt ist, wie viele ihrer möglicherweise entstehenden Probleme tatsächlich kausal durch ihre Chromosomen entstehen und wie viele durch gesellschaftliche Normen oder Diskriminierung. […] Ein anderer Karyotyp als XX oder XY ist ein wissenschaftlicher Fakt. Die Bezeichnung eines solchen Karyotyps als «Syndrom»,«Abweichung» oder «Krankheit» ist jedoch kein wissenschaftlicher Fakt, sondern eine menschliche Interpretation dieses Fakts. Ähnlich war es zum Beispiel auch bei Homosexualität. Dass Menschen sich zu unterschiedlichen Körpern und Geschlechtern sexuell hingezogen fühlen können, ist ein wissenschaftlicher Fakt. Die Bezeichnung von Homosexualität als «Krankheit» ist jedoch kein Fakt, sondern eine menschliche Interpretation dieses Fakts, die auch lange in der Wissenschaft vorherrschte. Was ich damit sagen möchte: Das Stempeln von allem, was nicht in die Binärität passt, als Syndrom oder Anomalie, ist kein wissenschaftlicher Fakt. Und deshalb gibt es immer mehr Naturwissenschaftler*innen, die nicht mehr von einer Geschlechterbinarität sprechen – wenn sie es überhaupt jemals in ihrer Disziplin getan haben. Denn in vielen naturwissenschaftlichen Disziplinen wird das schon lange nicht mehr getan. So wie ich das sehe, gibt es nur eine naturwissenschaftliche Disziplin, die noch verstärkt von einer Binärstruktur ausgeht (und wo es vielleicht auch Sinn macht). Und das ist nicht bei den Chromosomen, nicht bei den Hormonen, nicht bei den primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen, sondern bei der menschlichen Fortpflanzungsbiologie auf Basis der Keimzellen. Hier, und wirklich nur hier, macht es eventuell Sinn, von Binarität zu sprechen, weil man tatsächlich genau zwei unterschiedlich geschlechtliche Zellen braucht: ein Spermium und eine Eizelle. Aber das dann auf alle anderen Aspekte des Geschlechts zu übertragen bzw. Geschlecht auf Keimzellen zu reduzieren, wird nicht nur der höheren Komplexität des Geschlechts nicht gerecht, […]“ – den gesamten Artikel mit vielen weiteren Impulsen findet man bei Mannschaft hier verlinkt.

Mein einziger Kritikpunkt an diesem Artikel ist, dass bei all den verschiedenen biologischen Ebenen, die Geschlechtlichkeit aufweisen kann, auf die neuronale Verankerung von Geschlecht nicht eingegangen wird, ansonsten finde ich ihn sehr lesenswert.
Update 14.3.2024
Dafür findet man im Web einen anderen allgemeinverständlichen Artikel von Prof. Dr. Olaf Hiort (Endokrinologe) und darin einige Hinweise auf die Geschlechtsidentität im Zusammenhang der geschlechtlichen Vielfalt und der Geschlechtsentwicklung:
„Die geschlechtliche Entwicklung kann sehr vielfältig verlaufen, da hier viele verschiedene Gene und Hormone zusammenwirken. So können die äußeren Geschlechtsmerkmale mitunter eindeutig männlich oder weiblich aussehen, obwohl sich die Keimdrüsen anders entwickelt haben oder die Bildung und Wirkung der Hormone vom Normalfall abweichen. Die biologische Geschlechtsentwicklung ist höchst facettenreich und bislang nur in groben Zügen verstanden. Unklar ist etwa, welche Auswirkungen die hormonelle Variabilität auf die Geschlechtsidentität hat. Manche Menschen mit den beschriebenen Besonderhei­ten bezeichnen sich selbst als intersexuell, während sich andere klar als männlich oder weiblich empfinden. Die Kategorien Mann und Frau bilden eine Art Rahmen, innerhalb dessen vielfältige Ausprägungen von Geschlechtlichkeit möglich sind – sowohl genetisch, anatomisch und hormonell als auch psychologisch und sozial. Diese Varianten sind jedoch nicht krankhaft, sondern sollten als natürliches Spektrum der Geschlechtsentwicklung verstanden werden.“ (Quelle: https://www.spektrum.de/frage/geschlechtsidentitaet-gibt-es-mehr-als-zwei-geschlechter/1835662) (eingesehen am 14.3.2024)

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